Besitzt die Katholische Kirche die Wahrheit?

Besitzt die Katholische Kirche die Wahrheit?

 

Wieso maßt es sich die katholische Kirche an, Gottes Wahrheit zu besitzen und demzufolge das Leben der Menschen vorzuschreiben und ihnen ihre Autonomie abzusprechen?

(Anton, 24 Jahre)

 

Nicht die Kirche definiert die Wahrheit, sondern die Wahrheit die Kirche

Kein Mensch besitzt die volle Wahrheit des Glaubens und schon gar nicht aus eigener Kraft. Vielmehr ergreift die Wahrheit den Menschen, sofern er sich nicht widersetzt, erhält ihn in der Wahrheit und führt ihn, ein ganzes Leben lang, immer tiefer in sie hinein. Die Erkenntnis der Wahrheit des Glaubens ist also kein persönlicher Besitz des Gläubigen, den erlangt zu haben er sich rühmen könnte, sondern ein freies Geschenk Gottes, das der Gläubige unverdient empfängt und dessen er – wie er angesichts seiner Sünden bekennen muss – nicht gerecht wird mit seinem Leben.

Wenn der Gläubige nämlich aufrichtig ist, muss er sich eingestehen, dass er sich schuldhafter Weise allzu oft schon dieser Wahrheit verschlossen und ihr zuwidergehandelt hat. Keineswegs also kann er triumphieren über jene, die die Wahrheit des Glaubens nicht erkannt haben, sondern muss vielmehr trauern darüber, dass er hinter seiner Berufung zur Wahrhaftigkeit zurückgeblieben ist. Der wahrhaft Gläubige lebt in dem Bewusstsein, das er in seinem Glauben im Letzten allein von der Barmherzigkeit Gottes getragen wird, weil er ihrer unentwegt bedarf und ohne diese unversehens seinen christlichen Glauben verlöre.

Warum der eine die Wahrheit des Glaubens annimmt, der andere aber nicht, weiß Gott allein. Die Entscheidung für den Glauben an Gott – an die Menschwerdung Gottes in Christus –, vollzieht sich im Innersten des Herzens, verborgen für den Blick der Menschen. Unklar ist auch, ob jemand in seinem Leben bereits die Möglichkeit dazu erhalten hat, sich für den christlichen Glauben zu entscheiden oder nicht. Die fehlende Verkündigung des Glaubens, negative Erfahrungen mit Gläubigen, die der Kirche angehören u.v.m., können Hindernisse sein. Das zu beurteilen, ist nicht die Sache von Menschen.

Die Kirche hingegen besitzt in der Tat die Wahrheit des Glaubens[1] – mehr noch: Sie ist in gewisser Weise die Wahrheit Gottes, gemäß Johannes 14,6: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ Keineswegs kann die Kirche auf eine menschliche Institution reduziert werden, weil sie – dem Glauben der Katholiken gemäß – der „mystische Leib Christi“ ist. „Mystisch“, weil er nicht sichtbar und doch real ist. Alle getauften Christen gehören, sofern sie glauben und kraft ihres Glaubens, als Glieder zum Leib Christi, obwohl sie Sünder sind (vgl. 1 Korinther 12,12-30). Dieses Band kann sehr lose sein, es kann durch eine schwere Sünde ganz zerreißen, selbst bei solchen, die äußerlich betrachtet scheinbar ganz der Kirche angehören. Aber wenn dieses Band stark ist, wird auch die Liebe stark sein zu Christus und all jenen, die ihm angehören.

 

Die Eingliederung in die Kirche befähigt zur Liebe

„Du sollst Gott und Deinen Nächsten lieben, wie Dich selbst“ (vgl. Matthäus 22,35-40), heißt es in der Bibel. Ein Vers gegen den die meisten Menschen unserer postchristlichen Gesellschaft wohl nichts einzuwenden hätten. Die letzte Konsequenz dieses Satzes aber ist die Katholische Kirche. Denn das höchste Prinzip der Einheit ist die Liebe, am deutlichsten sichtbar in der bräutlichen Liebe von Mann und Frau, die leiblich, noch umfassender aber geistig ein Fleisch werden (vgl. Epheser 5,21-33). Genauso werden die Gläubigen durch die Liebe, die sie zueinander haben, und die nicht bloß natürlich und emotional, sondern vielmehr übernatürlich und bedingungslos ist, mystisch vereint in der Kirche.

Die Liebe drängt zur Einheit und stiftet sie; Liebe kann es ohne sie nicht geben. Alle Gläubigen werden „Einer“ in Christus, wie es der hl. Apostel Paulus ausdrückt (vgl. Galater 3,28), weil der Wille der Gläubigen, sich bedingungslos zu lieben, der Wille Jesu Christi ist. Er schenkt seinen Willen den Gläubigen, wenn sie ihn freiheitlich annehmen, und bewirkt sogleich, wonach sie verlangen: „Das Wort, das meinen Mund verlässt, kehrt nicht leer zu mir zurück, ohne zu bewirken, was ich will, und das zu erreichen, wozu ich es ausgesandt habe“ (Jesaja 55,11). Christus also vereint alle Gläubigen in seinem Willen zu einer einzigen Person, ohne dass die Gläubigen dadurch in ihrer Individualität aufgelöst würden. Daher ist die Kirche kein menschliches Konstrukt, kein Hindernis für die Liebe, sondern ihre innerste, sehnlichste Forderung.

Dass das Wesen der Kirche heute von vielen nicht mehr verstanden wird, liegt zu einem guten Teil an der Vorherrschaft des Individualismus in der sog. westlichen Welt, in der wir leben. Er besagt, dass der letzte Maßstab der Beurteilung der Wirklichkeit der je Einzelne sei. Es gibt und darf keine ihm übergeordnete Gemeinschaft geben, die besser weiß, was für ihn gut ist, als er selbst. Dass die katholische Kirche überhaupt eine verbindliche (!) Lehre hat, scheint deshalb immer schon eine Anmaßung zu sein, die das Privateste der Menschen: ihr Denken, zu bestimmen und somit das Leben der ihr Angehörigen zu kontrollieren suche.

In Wahrheit aber ist die Kirche die Gemeinschaft der sich Liebenden, deren Liebe die Herzen der je Einzelnen zu einem einzigen formt: dem Herzen Jesu. Das Verlangen nach dem Gut des anderen ist der eigentliche Antrieb kirchlicher Lehre und Verkündigung. Die katholische Dogmatik ist demgemäß nichts anderes als ein Werk der Barmherzigkeit. Keineswegs weiß der Einzelne immer schon, was das Beste für ihn ist, nur weil er vielleicht subjektiv empfindet, dass es so sei. Es sind auch keine „alten, weißen Männer im Vatikan“, die die Lehre vorgeben, um ihren eigenen Machtanspruch zu sichern, wie von manchen unterstellt wird. Die Lehre ist von Christus – von Gott selbst – offenbart aus Liebe, um alle Menschen zum Heil zu führen. Und wer das erkennt, tut es Ihm gleich, die Wahrheit des Glaubens in Liebe und mit Klugheit zu verkünden aus inniger Sehnsucht nach dem Heil aller Menschen.

 

Die Liebe: Ziel und eigentlicher Ausdruck der Freiheit

Der christliche Glaube besagt, dass jeder Mensch Frucht eines Gedankens Gottes ist, von Ewigkeit her geliebt, gewollt und zur Verwirklichung Seines Heilsplanes gebraucht (vgl. Benedikt XVI., Predigt vom 24. April 2005). Er ist somit kein zufälliges Produkt der Evolution. Der Schöpfer des Menschen hat ihm eine Natur gegeben, die nicht bloß die des Körpers ist, sondern die seiner ganzen leiblich-seelischen Existenz als Person. Nicht nur die Gesundheit des Körpers muss beachtet, auch das Heil der Seele muss bewahrt und gefördert werden. Heute ist vieles von dem hier Gesagten in Vergessenheit geraten. Die Kirche, die Alma Mater (Nährmutter), sorgt durch ihre Lehre für das Heil der Seele, um die Gläubigen vor der herrschenden Ideologie zu bewahren, die im Dienst der Interessen der Mächtigen steht. Das Wesen der Kirche, die Liebe, ist bedürfnislos. Sie ist die ärgste Feindin vieler, z.B. derer, die sich maßlos zu bereichern und zur Steigerung ihres Profits den Konsumismus zur Religion zu erheben suchen.

Unser Denken, anders als es uns erscheint, hat eine Geschichte und steht in der Geschichte, ist kulturell geprägt, fehlbar und immer der Gefahr ausgesetzt, manipuliert zu werden. Unsere Vernunft ist wahrheitsfähig und doch verwundet. Die Verbindlichkeit der kirchlichen Lehre hebt die Freiheit der Gläubigen keineswegs auf, sondern befreit sie vielmehr aus der „Knechtschaft der Vergänglichkeit“ und führt sie „zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“ (vgl. Römer 8,21). Alles Irdische, was Werbung, Medien und Kultur uns als begehrenswert vorstellen, wird nicht mehr sein, wenn wir selbst nicht mehr sind auf dieser Erde. Die Begierde nach dem Vergänglichen unterwirft uns unter die Geschöpfe, wird unserer Würde als Kinder Gottes nicht gerecht und lässt uns unser eigentliches Ziel verfehlen: das ewige Leben bei und in Gott. Dort wird es keine Begierde und kein Leid mehr, sondern nur noch Liebe geben. Deshalb können wir nur als Liebende eingehen in die „Herrlichkeit des Vaters“ (vgl. Johannes 17).

Das aber ist nicht bloß die jenseitige Verheißung eines Irgendwann-Einmal, sondern beginnt, jedes Mal, wenn ein Mensch sich mithilfe der göttlichen Gnade entscheidet, einen anderen Menschen um seiner selbst willen zu lieben, ohne etwas anderes zu bedürfen als bloß das eine Notwendige: dass der, den er liebt, da sei. Dann verwirklicht sich der Himmel auf dieser Erde, den Gott ausgießt in seinen Leib: die Kirche, um von ihr her auszuströmen in die ganze Schöpfung.

 

Oskar Buchholz, Student der Kath. Theologie an der Universität Wien

 

[1] Die Kirche Jesu Christi ist verwirklicht in der katholischen Kirche: „Das schließt nicht aus, dass außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen“ (II. Vatikanisches Konzil, Lumen gentium 8).