Was ist das Kreuz?

Was ist das Kreuz?

 

Was bedeutet eigentlich „das Kreuz“ im Leben eines Christen?

(Clara, 23 Jahre)

 

 „Zu allen sagte er: Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Lukas 9,23).

Sich selbst verleugnen heißt, den eigenen Willen dem Willen Gottes unterzuordnen. Erst so finden wir wahrhaft zu uns selbst, da der Wille Gottes uns selbst unendlich viel mehr entspricht als unser Eigenwille. Denn Gott hat uns in seiner Liebe tiefer erkannt, als wir uns je erkennen könnten.

Aber was ist der Wille Gottes? Wir erkennen ihn in unserem Gewissen, mit einem hörenden Herzen können wir ihn vernehmen, immer aber bedürfen wir unserer Vernunft. Auch einem Ruf, den wir in unserem Herzen vernehmen, dürfen wir nicht einfach folgen, sondern müssen mit der Vernunft erwägen, ob er von Gott stammen könnte. Wenn wir als Christen der Stimme unseres Herzens folgen, dann deshalb, weil sie mit der Vernunft vereinbar ist, und wenn wir der Einsicht unserer Vernunft folgen, dann deshalb, weil wir im Herzen erkennen, dass sie wahr ist. Wir beginnen uns selbst zu verleugnen, wenn wir beginnen radikal nach der Wahrheit zu fragen: über uns selbst, über die Menschen, mit denen wir verbunden sind und über Jesus Christus, der Offenbarung Gottes.

Dieser radikalen Frage nach der Wahrheit weichen wir nur allzu gern aus. Die Hl. Messe zu besuchen, den Rosenkranz zu beten usw. kostet fast nichts, sondern sind Geschenke, die uns erfreuen. Dieses Wohlempfinden ist für uns wie selbstverständlich ein wichtiger Antrieb zu unseren Frömmigkeitsübungen. Die Frage nach der Wahrheit hingegen kostet wirklich etwas. Wenn sie fehlt, ist alles andere – in Hinblick auf unser Heil – entwertet. Sie kostet ein großes Stück unseres Selbst; sie kostet das Trugbild, das wir von uns und unseren Nächsten haben; sie kostet unsere Bindungen an die Geschöpfe (vgl. Lukas 9,57–62); sie kostet einen schwachen Glauben, in dem wir es uns bequem gemacht haben und dabei vor allem uns selbst suchen. Die radikale Frage nach der Wahrheit führt uns von allein dazu, unseren Eigenwillen aufzugeben. Denn im Licht der Wahrheit dürfen wir erkennen, dass Sein Wille der einzig mögliche Wille ist, um wahrhaft Mensch sein zu können.

 

„Was ist Wahrheit?“ (Johannes 18,38)

Scheuen wir uns nicht, wie Pilatus zu fragen. Den Zweifel zuzulassen an dem, was das scheinbare Fundament unseres Lebens ist, unserer sozialen Identität, muss Ausdruck unserer Wahrhaftigkeit sein. Sind wir so kleingläubig, dass wir fürchten abzustürzen, wenn wir einmal radikal danach fragen, ob überhaupt wahr sein kann, was wir glauben? Der Zweifel ist dabei keineswegs das Ziel, über das hinaus es nichts Größeres geben könnte, sondern Ausdruck einer unvollkommenen Liebe zu Gott. Die Wahrhaftigkeit aber, die uns dazu bewegt, unseren Zweifel zuzulassen und uns diesen Mangel an Liebe einzugestehen, ist keine Sünde, sondern der einzige Weg zum Vater (vgl. Johannes 14,6) – der einzige Weg, allen Zweifel zu überwinden.[1]

Es soll uns in unserem geistlichen Kampf um die Wahrheit nicht anders gehen als Jakob am Jabbok (vgl. Genesis 32,23–33). Mit der Wahrheit müssen wir eine ganze Nacht, womöglich ein ganzes Leben des Zweifels lang ringen, bis sie uns und all unsere Trugbilder verwundet. Dann dürfen auch wir Israel – Kirche heißen.

Was ist Wahrheit? Gott selbst. Gott erhält alles Seiende im Dasein. Deshalb erfahren wir immer, wenn wir die Wahrheit tun, immer wenn wir ihr folgen – gerade, wenn sie uns etwas kostet –, einen Seins-Zuwachs, ein Mehr an Menschlichkeit und Göttlichkeit in unserem Innersten. In unserem Gewissen müssen wir auf die Stimme der Wahrheit hören, mithilfe unserer Vernunft nach ihr jagen (vgl. Psalm 34,15); sie allein schafft Frieden, denn in ihrer Ewigkeit ist der Gedanke Gottes geborgen, dessen Frucht wir sind. Erst in der Übereinstimmung mit diesem Gedanken – unserem wahren Selbst –, kommt unser Herz zur Ruhe. Sich selbst verleugnen heißt also nichts anderes als die trügerischen Gedanken, die wir über uns selbst haben, aufzugeben, auf dass Gott selbst in uns denken möge, denn erst dann denken wir recht von uns. Unsere Erkenntnis von der Wirklichkeit bleibt unvollkommen, bis Gott uns die vollkommene Erkenntnis der Wirklichkeit schenkt, indem er Wohnung nimmt in uns (vgl. Johannes 14,23).

 

Unser Kreuz

Aber was bedeutet dann, dass wir täglich unser Kreuz auf uns nehmen sollen? Das Kreuz nun könnte man sehr äußerlich betrachten und kleinere oder größere Bußübungen, aber auch Fasten, sonstige freiwillige Verzichte um des Glaubens willen bereits dem Kreuz zurechnen. Aber gerade dadurch würde man es verfehlen. Freiwillig gewähltes Leiden ist kein Kreuz, kann uns aber auf das Tragen unserer Kreuzes vorbereiten. „Unser Kreuz“ nehmen wir auf uns, wenn wir das Leiden, das unfreiwillig über uns kommt, von dem wir im Glauben an die Vorsehung aber annehmen dürfen, dass Gott es zu unserem Heil zugelassen hat, um Gottes willen bejahen.

Eine Mutter zum Beispiel, die ihr Kind verliert durch die schwere Sünde Dritter, soll in der Nachfolge Jesu ihr Leiden annehmen, in dem sie in von Bitterkeit, Wut, Hass, Verzweiflung oder Selbstmitleid ungetrübter Trauer leidet und selbst um die Täter noch weint. So hat es die Gottesmutter getan, als sie die Folterung und Ermordung ihres Sohnes mitansehen musste. Unser Alltag ist zumeist weniger dramatisch und weniger schmerzhaft, zumal wir zu verhärtet sind, um so tief und rein leiden zu können, wie Maria es getan hat, aber deshalb ist er nicht unbedeutend. Es heißt: „Wer in den kleinsten Dingen zuverlässig ist, der ist es auch in den großen…“ (Lukas 16,10). Auf jede noch so kleine Lieblosigkeit müssen wir uns deshalb bemühen, mit dem Schmerz unserer Liebe zu antworten!

Wenn Verärgerung in unserem Herzen aufsteigt, dürfen wir an unseren Herrn denken, der niemals seiner Erschütterung und seinem Schmerz über die Hartherzigkeit der Menschen ausgewichen ist. In unserer Verärgerung geben wir der Lüge nach, dass wir stark und nicht schwach seien. Der aufwallende Zorn gibt uns für den Augenblick ein Gefühl von Stärke gegenüber dem vermeintlichen oder tatsächlichen Unrecht, das uns widerfährt; in Wahrheit erniedrigt uns nicht das Unrecht, sondern unser Zorn, wenn wir ihm nachgeben.

Die andere Lüge ist die Gleichgültigkeit gegenüber aller Ungerechtigkeit, die uns und anderen widerfährt, als sei sie ohne Bedeutung. Wenn wir Gott nahekommen wollen, dürfen wir unser Herz nicht verschließen gegenüber dem Unrecht und der Lüge in der Welt. Lassen wir uns davon treffen, denn Christus ist immer betroffen! Wenn wir umgestaltet werden wollen in Ihn, müssen wir auch den Mut aufbringen, mit Ihm zu leiden.

„Ich liebe unseren Herrn Jesus Christus, wenn auch mit einem Herzen, das mehr und besser lieben  möchte, aber jedenfalls liebe ich ihn und kann es nicht ertragen, ein anderes Leben als das seine zu führen; war doch das seine das härteste und verachtetste, das es jemals gegeben hat“, so hat der sel. Charles de Foucauld empfunden und diesem Empfinden mit seinem Leben entsprochen. Gebe Gott, dass wir unseren Herrn ebenso innig lieben dürfen, wie es der bewunderungswürdige Charles getan hat, den Papst Franziskus beabsichtigt, bald heiligzusprechen, um ihn so der ganzen Kirche als Vorbild und Fürsprecher zu schenken.

Die Kreuzigung des Herrn begann mit seinem Eintritt in die dem Tod unterworfene Welt – Golgotha war nur der Höhepunkt. Sein ganzes Leben lang hat er, der so voll Liebe war, unter der Lieblosigkeit seiner Mitmenschen gelitten. Unter der Lieblosigkeit zu leiden ist der tiefste uns Menschen mögliche Schmerz. Sich von der Lieblosigkeit seiner Mitmenschen verwunden zu lassen, ohne die Lieblosigkeit im eigenen Herzen zu übersehen, heißt, „sein Kreuz“ auf sich zu nehmen und die Welt in der durch diese Verwundung gestiftete Einheit mit Christus „umzuleiden“ (Joseph Ratzinger).

 

Das Kreuz des Herrn

Wir müssen dem Herrn unser Leiden hinhalten und bitten, dass er es annehme als sein eigenes, und immer wieder diese demütige Haltung einüben entgegen aller Versuchung, uns negativer Gefühle hinzugeben. „Unser Kreuz“ ist also immer schon Anteilhabe am Kreuz des Herrn oder unser Leiden ist gar kein Kreuz, sondern Strafe für unsere Sünden, in denen wir uns von Gott losgesagt haben.

Wie die Kreuzigung Jesu geistiger Weise schon vor Golgotha begann, währt sie auch nach der Auferstehung noch fort in den Gliedern der streitenden Kirche. Wir, die wir auf den dreieinigen Gott getauft sind, dürfen uns Glieder nennen an seinem Leib. Wie wir im Herrn sind, so ist er in uns. So ergänzen wir in unserem irdischen Leben, was an den Leiden Christi noch fehlt (vgl. Kolosserbrief 1,24). Wie wir der ganzen Osterzeit über gedenken durften, ist der Herr wahrhaft auferstanden! Auch wir dürfen, wenn wir unser Kreuz auf uns nehmen, in der Einheit mit dem Gekreuzigten eintreten in die Herrlichkeit des Vaters. Hier wurzelt das tiefe Glück im Leiden, von dem viele Mystiker sprechen; hier gründet die Herzensglut, mit der unzählige in der langen Kirchengeschichte ausgerufen haben: Ave crux, spes unica! – Sei gegrüßt Kreuz, einzige Hoffnung!

Wer die Erschütterung durch die Lieblosigkeit nicht fühlt, wer nicht weiß, was es bedeutet, um Christi willen zu leiden, muss damit beginnen, sich selbst zu verleugnen. Wer radikal nach der Wahrheit fragt, wird Sein Kreuz zu spüren bekommen. Zögern wir nicht, Gott um den Mut zur Wahrhaftigkeit und den Mut für unser Kreuz zu bitten als Anteilhabe an dem Kreuz Jesu, um Ihn in Seiner Einsamkeit zu trösten!

Wie der Schmerz der Liebe zum Leben eines Christen gehört, so auch die tiefe Freude darüber, Christ heißen zu dürfen; so auch das kindliche Staunen über Seine Schönheit; so auch das überwältigende Glück Ihm für immer anzugehören. Wenn wir uns dem Schmerz der Liebe verweigern, dann verweigern wir uns der Liebe überhaupt. Gegenüber der Knechtschaft der Sünde, die uns niederbeugt, ist Sein Joch sanft und Seine Last leicht (vgl. Matthäus 11,30). Nur der Irrtum lässt uns davor zurückschrecken, um unser Kreuz zu flehen, denn nur durch das Kreuz gelangen wir zur Einigung mit Ihm in Seiner himmlischen Glückseligkeit.

Dort wird der Jubel in unserem Herzen über unseren geliebten Herrn nie mehr verstummen, über den wir schon auf unserem irdischen Pilgerweg mit der Kirche singen dürfen: „Du bist der Schönste von allen Menschen, Anmut ist ausgegossen über deine Lippen; darum hat Gott dich für immer gesegnet. Gürte, du Held, dein Schwert um die Hüfte! O deine Pracht und Hoheit! In deiner Hoheit habe Erfolg, kämpfe für die Wahrheit und für die gebeugte Gerechtigkeit!… (Psalm 45,3–5).

 

 

Oskar Buchholz, Student der Kath. Theologie an der Universität Wien

 

[1] Verschiedene Heilige haben die schmerzhafte Erfahrung gemacht, dass Gott ihnen die Mitteilung Seiner selbst entzogen hat und ihr Glaube damit – ihrem Erleben nach – unbeantwortet geblieben ist. Diese Erfahrung war umso qualvoller, als diese Heiligen zuvor die innige Nähe Jesu hatten erfahren dürfen. Der hl. Johannes vom Kreuz (gest. 1591) hat für diese seine Erfahrung den Begriff „Dunkle Nacht“ geprägt. Die Heiligen sind Jesus damit bis nach Golgotha nachgefolgt, wo er, obwohl er Gott war, als Mensch die radikale Gottverlassenheit durchlitten hat. Gerade weil er auch Gott war, gleicht kein Schmerz dem Seinigen (vgl. Klagelieder 1,12). Johannes vom Kreuz hat trotz seiner Nacht-Erfahrung nie an Gott und dessen Liebe gezweifelt, vielmehr hat er sein eigenes Vermögen in Frage gestellt, auf die Liebe Gottes antworten zu können. Auch die hl. Therese von Lisieux (gest. 1897) zweifelte nicht, der gegenüber Johannes eine abgeschwächte Nacht-Erfahrung zuteil wurde, weil ihr, anders als Johannes, die übernatürliche Gewissheit nie entzogen worden ist, an Gottes Erlösungswerk mitwirken zu dürfen. Auch die hl. Mutter Teresa von Kalkutta hat – anders als oft behauptet – im eigentlichen Sinn nicht an Gott gezweifelt, obwohl sie Jahrzehnte innerer Dunkelheit erlebte, in der sich ihr auch qualvolle Empfindungen des Zweifels aufdrängten, was sie von den beiden vorher genannten Mystikern unterscheidet. Aber das sind Empfindungen geblieben, die in ihrem Fall wohl von Gott auferlegt, also Ausdruck dunkler Beschauung waren, in der Mutter Teresa gemeinsam mit dem Herrn Sühne leistete für den Unglauben der Welt. An ihrer Berufung hat sie nie gezweifelt, ihr Glaube kam zum Ausdruck in ihrem unermüdlichen Dienst an den Nächsten und ihrer christlichen Verkündigung. Der Glaube an Christus ist kein Gefühl, sondern eine Entscheidung. Insofern wird Mutter Teresa von der Kirche zurecht als große Glaubenszeugin und Heilige verehrt.